BROKEBACK MOUNTAIN erhält den goldenen Löwen von Venedig und vier Golden Globes. Der fulminante künstlerische Erfolg setzt sich an der Kinokasse fort. Bei den Academy Awards erhält der Film 3 begehrte Statuen (Beste Regie – Ang Lee, Beste Filmmusik, bestes adaptiertes Drehbuch).
Der ungewöhnliche Western über die Liebe zweier Cowboys basiert auf einer Kurzgeschichte von Annie Proulx, die 1997 im „New Yorker“ erscheint und heute ein Klassiker unter den amerikanischen Kurzgeschichten ist. Sie adaptiert das Drehbuch mit Larry McMurty. Regisseur Ang Lee ist in vielen Kulturen zu Hause: Er ist in Taiwan geboren (Eat drink man woman), dreht in China CROUCHING Tiger HIDDEN Dragon, einen historischen Film in der Tradition der Martial Arts, verfilmt in England Jane Austens SENSE AND SENSIBLITY und ICE STORM in den USA. Wie souverän er mit Homosexualität umgeht, zeigt er in der Komödie THE WEDDING BANQUET: In seinem neuen Film räumt mit Klischees von Cowboys als echte Kerle und Naturburschen auf, die den ganzen Tag nur auf wilden Pferden durch die endlose Prärie reiten.
Im Sommer 1961 begegnet der Landarbeiter Ennis del Mar (Heath Ledger) in Wyoming dem Rodeoreiter Jack Twist (Jake Gyllenhaal). Dort hüten sie eine Schafsherde. Auf dem Brokeback Mountain sitzen sie jeden Tag am Lagerfeuer. Der wortkarge Ennis und der extrovertierte Jack verstehen sich ohne Worte: Sie entdecken, dass zwischen ihnen mehr als Freundschaft ist. In direkter brutaler Körperlichkeit und leidenschaftlichem Sex finden sie Erfüllung. Konventionen und Moralvorstellungen der ländlichen US-Provinz verhindern ein Ausleben ihrer Liebe in der Öffentlichkeit. Ennis heiratet die junge Alma, kommt aber von der Zeit auf Brokeback Mountain nicht los. Auch Jacks Ehe mit der Texanerin Lureen ist unerfüllt. Seine große Liebe bleibt Ennis. Brokeback Mountain ist für beide Männer ein Ort der Freiheit, Paradies auf Erden und Zuflucht vor dem normalen Leben mit Ehe, Kinder, Beruf. Dort kehren sie wieder zurück, um ihre Beziehung fortzusetzen. Gemeinsame Pläne werden verschoben, bis Jack einen verzweifelten Versuch unternimmt, für ihre gemeinsame Zukunft zu kämpfen.
Das intime Porträt zweier Männer ist eine einzigartige Liebesgeschichte. In den USA, wo die Diskussion über homosexuelle Liebe auf einen neuen Höhepunkt zusteuert, kritisieren katholische Kreise den Film und die wertfreie Darstellung einer schwulen Liebe. Sie träumen von einer Rückkehr der Legion of Decency, den Sittlichkeitsvereinen, die lange Zeit das Kino mit Zensur und Vorschriften kontrollieren und die Darstellung von Homosexualität generell untersagen.
Ohne Bedenken ist Ang Lee. Er feiert die sentimentale Atmosphäre inmitten der schönen Landschaften mit malerischen kunstvollen Bildern. Bekannte Motive in ungewohntem Kontext ermöglichen das neue und unbefangene Sprechen um über Liebe. Ohne Schwarz-Weiß-Malerei oder Wertungen gelingt ihm eine schwerelose Regie. Brokeback Mountain ist das perfekte Meisterwerk. Präziser Dramaturgie, grandiose Schauspielern und bewegende Aufnahmen nehmen dem Film nichts von seiner explosiven Kraft. Die Charaktere sind detailliert, facettenreich und ausnahmslos grandios besetzt. Die Musik von Gustavo Santaolalla verbindet wunderbar lange Zeitspannen mit ergreifenden musikalischen Anspielungen.
Dass der Film nicht als bester Film des Jahres ausgezeichnet wurde, empfinden viele als Überraschung, wenn nicht sogar als Niederlage, was konservative Kritiker mit einer gewissen Häme kommentieren. Fakt ist, kein Film ist heuer öfter ausgezeichnet worden, als das Meisterwerk von Ang Lee, ein Film, der auch Entertainment auf höchstem Niveau bietet. Kein Film hat außerdem so viele Diskussionen gegeben. Der ironische Zusammenschnitt von Szenen aus klassischen Western mit schwulen Anspielungen zu Beginn Oscarnacht ist nur ein Denkanstoß von vielen durch Brokeback Mountain. Wie sagte noch George Clooney, ein anderer „Verlierer“ dieses Abends, trotz Oscar für die beste Nebenrolle: Ein Film allein kann nichts bewirken in Gesellschaft und Politik. Aber dennoch kann so ein Film Menschen zum Denken anregen und nach und nach eine Lawine ins Rollen bringen.
Peter Jobst